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Jahreschronik 1993: Der Spiegel bekommt “faktisch” Konkurrenz
Langsam zeichnet sich am Horizont eine neue Zeit ab: In Russland gibt es erste freie Wahlen, der europäische Binnenmarkt wird für den freien Warenverkehr geöffnet und in Genf gibt das CERN die WWW-Technologie kostenlos frei. Mit Mosaic gibt es den ersten Browser und bei Pizza Hut kann man die ersten Pizzen online bestellen. Langsam kommen wir der Bequemlichkeit samt echten Problemlösungen näher, wie auch die vermeintlich erste Webcam zeigt: Angeblich checkt sie den Füllstand einer Kaffeemaschine im Computerlabor der Universität Cambridge. So etwas haben wir noch nicht, als uns ein c’t-Redakteur auf der CeBIT die ersten Vorläufer des World Wide Webs zeigt. Doch es ist sonnenklar, dass daraus etwas sehr Großes entstehen wird.
Entsprechend rüsten wir im fünften Jahr der Agenturgeschichte unsere Infrastruktur weiter auf: Es gibt neue Macs und wir führen die E-Mail bei uns ein. Damit liegen wir weit vorne, wie sich zum Jahreswechsel noch zeigen wird. Zudem bauen wir mit viel Eigenleistung und externer Programmierung unsere Mediendatenbank zum Agentursystem aus, das alle zentralen kaufmännischen Aufgaben unterstützt. Mehr als 15 Etat-Kunden brauchen eben auch eine gute Organisation im Hintergrund.
Das gilt ebenfalls für unsere CeBIT-Einsätze, die sich von Jahr zu Jahr aufwendiger gestalten. Mittlerweile schleppen wir Hunderte von Pressemappen (mit Texten auf Disketten) ins Pressezentrum, organisieren eine dreistellige Zahl an Interviews und zunehmend mehr Presse-Events. Die Nächte in unseren Privatquartieren sind tendenziell kurz, denn wir lassen keine Party aus: Vormessetreff bei der Computer Zeitung, offizielle Messeeröffnung, Heise-Standparty, oder Kunden-Events – die Techie-Themen bieten viel Stoff für Small Talk beim Messebier.
So ist beispielsweise die Vorstellung des Pentium Prozessors von Intel das diesjährige CeBIT-Highlight und viele PR-Kollegen fragen uns “Tech-Exoten”, wozu soll das denn alles gut sei. Gleichzeitig möchten immer mehr Menschen wissen, wie die neue Technologie funktioniert und was sie bringt. Da vielen Systemen jegliche Benutzerfreundlichkeit abgeht, beschäftigen sich (Neu-)User oft mehr mit Lernen, Systeminstallationen, Features und Bugs als mit der Lösung ihrer eigentlichen Arbeit. Mit der spannenden Frage, wo uns diese Technologie als Menschen, Unternehmen oder Gesellschaft hintreiben wird, also der tieferen Bedeutung des Ganzen, beschäftigen sich nur ganz Wenige. Das dieser Frage innewohnende PR-Potential können wir erst ab 1994 mit einem innovativ denkenden Kunden ausloten.
In den Medien liest man derweil von Netzen, grafischer Datenverarbeitung, Multimedia, Chips, objektorientierter Programmierung oder künstlicher Intelligenz. Doch wo die Reise wirklich hingeht, demonstriert die Unterhaltungsindustrie: Im Blockbuster “Jurassic Park” wird den Dinos mit 3D-Modellen und Animationen Leben eingehaucht, zudem kommen immer ausgefeiltere Computerspiele auf den Markt. Doom wird vorgestellt und Atari bringt die Spielekonsole Jaguar heraus. Experten sind kritisch und warnen, dass Computerspiele jugendgefährdend und gesundheitsschädlich seien. Dennoch ist es ein Milliarden-Markt im Aufbruch.
Nicht nur in der Unterhaltungsindustrie geschieht Ungeheuerliches. Auch die deutsche Medienlandschaft kommt in Bewegung: Der Spiegel bekommt mit dem Launch des Focus Magazins Konkurrenz, das von nun an “Fakten, Fakten, Fakten” bringt. Die Erstausgabe titelt mit “Genschers Comeback”. In den USA kommt für die wachsende Internet-Community das Kultblatt Wired auf den Markt. Die Titelstory ist “War Is Virtual Hell. Bruce Sterling reports back from the electronic battlefield” und Features wie “This Is A Naked Lady – Behind every new technology is … sex?” beschäftigen sich mit den wirklich wichtigen Themen des frühen Internetzeitalters.
Langsam globalisiert sich auch die PR. Während unsere US-Kunden bislang aufgrund langer Postlaufzeiten nicht so genau auf das Timing ihrer Ankündigungen in Deutschland achten mussten, beginnt mit dem Internet die “Just-in-time-ƒra”. IDG bringt immer häufiger Stories zu Themen eines Kunden, die in Deutschland – oft sogar dem betreffenden Kunden selbst – noch gar nicht bekannt sind oder sich noch in der Übersetzung befinden. Die ersten E-Mail-Ticker kommen auf, wobei das alles noch recht schmalbandig ist. Uns liefern die Abonnements von Technology Review oder PR-Week deutlich mehr Substanz. Doch gibt es für den PR-Alltag 1993 auch ziemlich handfeste Aktionen wie die neuen fünfstelligen Postleitzahlen – für uns bedeutet das die Umstellung von knapp 10.000 Datensätzen.
Mitte des Jahres feiern wir mit 150 Gästen sehr lange und sehr witzig unser 5-jähriges Agenturbestehen, mit Live-Cooking, Marching Band, menschlicher Musik-Box, einem Streichquartett, einer Wahrsagerin und einem Klavier mit rockiger Harfe.
Trotz Rezession (ein knappes Prozent minus) wächst unser Honorarumsatz um rund 25 Prozent und wir gewinnen weitere neue Kunden. Darunter ist beispielsweise der Netzwerkhersteller Chipcom. Ein sehr netter Kunde, für den wir neben PR jede Menge Corporate Media wie Kundenzeitungen oder Themenbroschüren erstellen – wie auch zunehmend für andere Kunden. Auch wird Object Design Kunde, ein Experte für objektorientierte Programmierung, sowie die Kongressmesse Exponet für die Firma DC.
Da auch PR-ler in Form bleiben müssen, radeln wir beim ersten Betriebsausflug der Agenturgeschichte in den Rheingau. Und vor dem Jahreswechsel geht das Agenturteam ins Studio für das Shooting zur ersten selbst produzierten Weihnachtskarte. Insgesamt ist es für uns ein sehr, sehr gutes Jahr und wir sind gespannt, was die Entwicklung des Internet bringt. Der Jahres-Hit kam übrigens von den 4Non Blondes: “What’s Up”. Mit der festen Überzeugung, dass noch viel “gehen” wird, wechseln wir ins neue Jahr.